In Italien werden die Menschen älter als in vielen anderen Ländern in Europa. Die Lebenserwartung liegt laut Eurostat bei über 83 Jahren – höher als in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. Doch eine Insel sticht selbst in diesem langlebigen Land hervor: Sardinien.
Im abgelegenen Osten von Sardinien, auf den Hochebenen Barbagia und Ogliastra, zählt fast jede Familie jemanden, der die Hundert überschritten hat.
Diese Region gehört heute zu den fünf Blauen Zonen der Welt – Orte, in denen ungewöhnlich viele Menschen ein hohes Alter erreichen.
Die Blue Zone Sardiniens ist die erste ihrer Art
Das Konzept der Blue Zones wurde vom amerikanischen Forscher Dan Buettner geprägt. Neben Sardinien gehören dazu Okinawa (Japan), Nicoya (Costa Rica), Ikaria (Griechenland) und Loma Linda (USA).
Sardinien war die erste Region, in der dieses Phänomen identifiziert wurde – und die, deren Lebensweise bis heute am ursprünglichsten geblieben ist.
Bereits in den 1990er-Jahren wies der sardische Demograf Gianni Pes nach, dass in einigen Gemeinden der Insel die Zahl der Hundertjährigen außergewöhnlich hoch ist. Besonders auffällig: In Dörfern wie Villagrande Strisaili werden nicht nur Frauen, sondern auch Männer ungewöhnlich alt – etwas, das sonst selten vorkommt.
Im Jahr 2023 wurde die sardische Blaue Zone erneut untersucht. Ein internationales Team unter Leitung des belgischen Demografen Michel Poulain, in Zusammenarbeit mit der Universität La Sapienza in Rom, wertete die Daten von über 3.000 Hundertjährigen aus.
Die Wahrscheinlichkeit, auf Sardinien 100 Jahre alt zu werden, hat sich laut Studie innerhalb von zwei Jahrzehnten von zwei auf acht von tausend Geborenen vervierfacht. Wer in einem Dorf der neu definierten Blauen Zone geboren wird, hat doppelt so hohe Chancen, ein Jahrhundert zu erreichen wie der Rest der Inselbevölkerung.
Trotzdem bleibt der Kern derselbe: Die gebirgige Mitte Sardiniens – rund um den Gipfel Punta La Marmora – ist weiterhin das Herz dieser erstaunlichen Langlebigkeit.
Das raue Herz Sardiniens
Die Barbagia im Inneren der Insel ist eine Welt für sich – geprägt von steilen Hängen, Wacholderhainen und felsigen Böden.
In den abgeschiedenen Dörfern wie Seulo, Tiana oder Villagrande Strisaili, von denen die meisten nicht mehr als 3000 Einwohner haben, spielt der Tourismus kaum eine Rolle. Viele Bewohner leben noch immer in Familienbetrieben, züchten Schafe oder betreiben kleine Landwirtschaft.
Diese Abgeschiedenheit hat eine erstaunliche soziale Stabilität bewahrt. Familien leben über Generationen hinweg unter einem Dach oder zumindest im selben Dorf. Ältere Menschen bleiben in den Alltag eingebunden, Alterseinsamkeit ist kein Thema – sie arbeiten mit, kochen, betreuen Enkel, treffen Nachbarn.
Forscher der Universität Sassari sprechen von einer „kulturellen Kohärenz“: einer Gesellschaft, die über Jahrzehnte hinweg ihre Werte, Strukturen und Rituale bewahrt hat.
Hier altern die Menschen nicht einsam, sondern sichtbar – als Teil eines funktionierenden Miteinanders.
Alltag als Lebensrhythmus
Anders als bei uns, fragt sich hier niemand, ob er ein gesundes Leben führt. Arbeit, Bewegung, Essen, Ruhe – all das folgt einem natürlichen, stressfreien Takt.
Bewegung geschieht nebenbei: beim Ziegenhüten, bei der Feldarbeit, beim Gang auf steilen Straßen, um die Verwandschaft zu besuchen. Niemand spricht von „10.000 Schritte pro Tag“, und doch legt fast jeder täglich Kilometer zurück.
Auch die Ernährung folgt dieser Schlichtheit. Typisch sind Gerstenbrot, Hülsenfrüchte, Gemüse, Olivenöl, etwas Käse und ein Glas Cannonau, der sardische Rotwein. Fleisch wird selten gegessen, meist an Feiertagen.
Ernährungswissenschaftler der Universität Cagliari beschreiben die sardische Kost als „ursprüngliche Form der Mittelmeerdiät“ – reich an Ballaststoffen, arm an Zucker, und fast vollständig regional geprägt.
Gemeinschaft als Schutzfaktor
Soziale Bindungen scheinen eine entscheidende Rolle zu spielen. In den Dörfern der Barbagia ist niemand allein. Nachbarn besuchen sich ohne Anlass, gemeinsames Mittagessen zwischen Familienmitgliedern ist selbstverständlich.
In Studien der Universität Sassari zeigten ältere Bewohner auffällig hohe Werte in Lebenszufriedenheit und Resilienz – also psychischer Widerstandskraft. Religion, Dorfgemeinschaft und gegenseitige Hilfe schaffen ein stabiles soziales Netz, das Einsamkeit verhindert – eine der größten Gesundheitsrisiken des modernen Alters.
Auch Rollenbilder unterscheiden sich: Alte Menschen sind hier keine Belastung, sondern Träger von Wissen und sozialem Zusammenhalt.
Können wir in Deutschland auch so leben?
Das Leben in der Blauen Zone Sardinien lässt sich nicht kopieren. Aber es stellt Fragen, die überall relevant sind:
Wie viel Zeit verbringen wir in Bewegung, ohne Ziel? Wie oft essen wir gemeinsam mit Oma und Opa? Wann haben wir zuletzt etwas selbst gemacht, statt es zu kaufen?
Vielleicht liegt in diesen unscheinbaren Gewohnheiten ein Schlüssel – nicht für Unsterblichkeit, sondern für Zufriedenheit.
Das leise Geheimnis der Langlebigkeit
Wenn die Sonne über den Bergen der Barbagia untergeht, riecht es nach Holzrauch und Wein. Auf den Straßen sitzen Menschen, die ein Jahrhundert erlebt haben, und sprechen über Ernten, Kinder, Nachbarn, Politik.
Sie führen kein außergewöhnliches Leben – und vielleicht ist es genau das, was es so besonders macht.
Die Blaue Zone Sardinien erinnert daran, dass Altern kein Makel ist, sondern ein Prozess, der besser gelingt, wenn er geteilt wird.